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Der Wind pfeift mir um die Ohren, ich muss mich richtig dagegen stemmen, um nicht von den Klippen geblasen zu werden. Die Kamera gerade zu halten, wird zum Kraftakt. Völlig unbeeindruckt von den Windverhältnissen scheinen die Basstölpel zu sein, die direkt vor mir in der Luft stehen. Mühelos schweben sie über den steilen Felsen, die von ihren Artgenossen besetzt sind.
Ein-, zweimal kreisen sie über der Kolonie, bis sie ihre Angebetete wiedergefunden haben und die Landung mit einem lautstarken und aufgeregtem „Rrrra, rrrra, rrrraaa!“ ankündigen. Dann plumpsen sie fast auf ihre Partnerin. Fast grob packen sie die am Boden Sitzende mit dem Schnabel vom hinten am Hals, um gleich darauf schon zärtlicher zu werden und mit ihr die Schnäbel zu reiben. Es scheint ein einstudierter Tanz zu sein, den sie immer wieder aufführen: mit gereckten Hälsen die Schnäbel in die Luft strecken, aneinander zu reiben, dann wieder mit aufgeregtem Geschrei den Kopf hin und her zu bewegen, als würden sie sagen wollen „Nein, nein, nein, dich verlasse ich nie mehr!“. Dabei steigen sie bedächtig wippend von einem Fuß auf den anderen. Dann sind sie ganz ruhig, in ihrer Zweisamkeit versunken, als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Um gleich darauf wieder in aufgeregtes „Rrrrra, rrrra, rrrrraaaa“ auszubrechen und den Tanz von neuem zu beginnen.
Schließlich erhebt sich einer der beiden wieder mit einem kurzen Seufzer von den Felsen und segelt davon.
Stunden später stehe ich schon wieder an den Klippen und fokussiere mit meinem Fernglas eine kleine Nische im roten Felsen vor mir. Es ist 20 Uhr und die Sonne steht noch immer hoch über dem Meer. Ein kleines Grüppchen hat sich um einen jungen Mann versammelt, der uns erzählt, was es mit dem Lummensprung auf sich hat: die Trottellummen brüten ebenfalls in den roten Felswänden Helgolands und sind als schwarz-weiße Bänder zwischen den größeren Tölpeln zu erkennen. Wie kleine Pinguine stehen sie aufgereiht auf den schmalen Felsvorsprüngen. Und wie die Pinguine sind sie nur im Wasser richtig zu Hause. Ihr Flug ist eher schwerfällig und sie kommen nur zum Brüten an Land. Das ist auch der Grund, warum ihre Küken schon nach drei Wochen den Sprung von 30 bis 40 Meter in die Tiefe wagen müssen – obwohl sie noch nicht fliegen können. Die Eltern schaffen es einfach nicht mehr, die viele Nahrung die steile Felswand hinauf zu tragen.
Heute Abend scheint es günstig zu sein: wenig Wind und gutes Wetter – was auch uns das Beobachten leichter macht. Mit unseren Ferngläsern suchen wir die gegenüberliegende Felswand ab. Die Lummen-Küken sind nur schwer zu erkennen, da sie meistens zwischen den Eltern und der Felswand sitzen. Doch dann haben wir einen vielversprechenden Kandidaten ausgemacht: das Küken steht relativ frei und macht einen aktiven Eindruck. Es streckt sich und schlägt mit seinen kleinen Flügelstummeln, als ob es sich schon für den großen Sprung bereit machen möchte. Trippelt zwei Schritte auf den Abgrund zu, schaut kurz hinunter und dreht dann wieder um, als wollte es sagen: „Mit mir nicht!“. So klein und verletzlich ist das kleine Federknäuel. Man möchte es am Liebsten in den Arm nehmen und ihm versichern, dass alles gut gehen wird.
Obwohl die Eltern dem Kleinen gut zuzureden zu scheinen, tut sich die nächsten Minuten nichts. Das Küken hat sich wieder der Felswand zugewendet und scheint in Gedanken versunken. Dann wieder etwas „Action“: es steigt versuchsweise auf einen Mini-Stein und hüpft hinunter. Flüchtet dann aber wieder sofort in Richtung Felswand.
Wieder ein paar kleine Schritte nach vorne, ein Flattern mit den Flügeln, wir halten kurz die Luft an, dann trippelt er wieder zurück. Steckt den Kopf unter den Flügel der Mutter, als wollte er sagen „Mama, ich hab Angst“.
Mittlerweile ist es nach 22 Uhr, die Sonne ist schon im Meer versunken und es wird dämmrig. Unser Führer meint, er müsste jetzt auch Feierabend machen. Doch wir müssen dableiben, können das kleine Kerlchen jetzt nicht alleine lassen und richten unsere Ferngläser und Kameras auf ihn. Als würde er die gesammelte Aufmerksamkeit spüren, kuschelt er sich an den Felsen und vergräbt den Kopf im feinen Flaum. „Noch eine halbe Stunde“, denke ich bei mir, dann ist laut Führer der Zeitpunkt, an dem die Meisten der Küken den Sprung in die Tiefe wagen.
Mir ist so kalt, dass ich mein Fernglas mit beiden Händen halten muss, damit ich vor lauter Zittern und Wind etwas sehen kann. Langsam verschwimmen die Konturen am Felsen im Dämmerlicht und ich muss mich konzentrieren, um das kleine schwarz-weiße Knäuel noch zu erkennen. Nach 30 Minuten tut sich immer noch nichts am Felsen. Einige aus unserer Gruppe haben mittlerweile schon aufgegeben und sind abgezogen.
Vielleicht springt er heute gar nicht. Braucht noch einen Tag, um den nötigen Mut zu sammeln. „Noch 10 Minuten“, denke ich mir und traue mich nicht, den Blick abzuwenden, vor lauter Angst, den entscheidenden Moment zu versäumen.
Die Mama macht ein paar Schritte vor zur Felskante, der Kleine schaut skeptisch, macht dann auch zwei Schritte vor und wieder einen zurück. Vergräbt wieder den Kopf unterm Flügel. Vorsichtig stupft ihn die Mama an. Und dann geht es ganz schnell: zwei kleine Schritte nach vor, die kleinen Flügel ausgebreitet und weg ist er. Verschwunden im Dämmerlicht der Tiefe. Und knapp dahinter die Mama, um sich zu vergewissern, dass er auch gut unten angekommen ist.
22:48 Uhr: das kleine verbliebene Grüppchen jubelt kurz und spendet dem todesmutigen Springer einen Applaus. Auf dem Weg nach Hause über die Klippen, der Horizont hinterm Meer leuchtet noch, kann ich das Lächeln nicht unterdrücken: ich bin stolz auf ihn, den kleinen Springer. Möge er ein langes und glückliches Leben vor sich haben.
(Helgoland, Juni 2018)