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Ungläubig schaut mich der Beamte durch die Glasscheibe an.
„Have you ever been to the United States?“
„No.“
„Do you have friends or relatives here?“
„No.“
„And what was your plan again?“
„To cycle along the west coast from Seattle to San Francisco.“
Langsam kommt mir mein Vorhaben auch einigermaßen verrückt vor, und ich kann sogar verstehen, warum mich der Immigration Officer so misstrauisch beäugt. Vielleicht hätte ich mir für meine erste Solo-Reise doch ein etwas kleineres Vorhaben auswählen sollen?
Als vor knapp 20 Stunden der Wecker läutete und das Taxi mich und mein gut verpacktes Fahrrad zum Flughafen brachte, war da schon ein leicht komisches Gefühl. Vier Wochen, so ganz allein. Aber Vorfreude und Reisefieber überwogen – und die Neugier, wie es mir wohl ergehen wird.
Aber aktuell sieht es eher so aus, als würde ich schon bei der Einreise scheitern. Die Frage nach meinen Barmitteln macht den Beamten auch nicht freundlicher. Als ich ihm meine Kreditkarte zeige, um zu beweisen, dass ich für die nächsten Wochen zumindest für mich selbst sorgen kann, entdeckt er den akademischen Titel, der ihn dann doch milde stimmt. Jemand, der ein Studium abgeschlossen hat, kann wohl kein Schmarotzer sein (manchmal hilft die österreichische „Titel-Verliebtheit“ ja doch).
Er lässt mich ziehen, und einige Zeit später nehme ich mein leicht verbogenes Fahrrad in Empfang. Auf zwei Rädern komme ich also nicht bis Seattle Stadt. Und schon dämmert mir eine der ersten Erkenntnisse des Alleinreisens: man kann sich nicht darauf verlassen, dass es einer der anderen Mitreisenden erledigt. Entweder man nimmt die Dinge selbst in die Hand oder es wird nichts passieren. Kurzerhand frage ich ein deutsches Pärchen, das ebenfalls mit verpackten Rädern in die Stadt möchte, ob ich mich ihnen anschließen kann.
Am Abend sitze ich nach meinem ersten amerikanischem Burger an der „Fishermen’s Wharf“ und schaue in die untergehende Sonne, die den Hafen mit den vielen kleinen Inseln im Hintergrund in goldenes Licht taucht. Mir brummt der Kopf von der langen Anreise und der Zeitverschiebung. Vielleicht kommen ja daher die vollkommene Ruhe und Zufriedenheit, die mich erfüllen.
Es fühlt sich ein klein wenig unwirklich an, allein in einem fremden Land, fast am anderen Ende der Welt…
Zwei Tage später beiße ich hoch oben über dem Meer auf einer der Inseln im Puget Sound genüsslich in mein Erdnussbutter-Sandwich und lasse meinen ersten Tag auf dem Fahrrad Revue passieren: den kühlen Morgen, als die Fähre zum Bainbridge Island aus dem Nebel auftaucht. Mein voll bepackter, mittlerweile wieder fahrtüchtiger Drahtesel neben mir. Die wunderschöne Küstenstraße, die sich den Hügeln entlang schlängelte – und mich angesichts der vielen Steigungen krampfhaft überlegen ließ, welchen Teil meines Gepäcks ich zurücklassen könnte.
Hinter mir steht mein nagelneues Zelt ein bisschen einsam im Schatten der Bäume. Das einmalige „Trockentraining“ zuhause in der Wohnung hat gereicht, um es jetzt ohne große Probleme aufzubauen. Um diese Jahreszeit scheint nicht mehr viel los zu sein auf den wirklich wunderschön gelegenen Hiker & Biker Campingplätzen. Ein paar Meter weiter steht noch ein Campingbus mit einem Ehepaar. Ansonsten gehört der Platz mir. Aber ich bin viel zu müde heute, um mir groß darüber Gedanken zu machen, wie abgelegen es hier ist. „Ein heiße Dusche wäre aber schon noch etwas Feines…“ denke ich mir, als ich in meinen Schlafsack krieche und das Meeresrauschen mich in den Schlaf begleitet.
Nach ein paar Tagen ist das tägliche Zelt ab- und wieder aufbauen schon fast Routine. Ich erfreue mich an den Abenden in der Natur mit meist grandiosen Ausblicken. Die Nächte sind allerdings schon recht kühl und morgens fällt es mir nicht immer leicht, den wärmenden Schlafsack zu verlassen. Besonders, wenn der Regen monoton auf mein Zeltdach klopft, verkrieche ich mich noch ein wenig tiefer und fühle mich warm und geborgen in meinem kleinen „Haus“.
Unterwegs werde ich immer wieder angesprochen und ernte überraschte oder gar entsetzte Blicke, wenn ich von meinem Vorhaben erzähle: den Highway No. 1 entlang der Pazifikküste ganz allein zu erradeln.
„You are all by yourself? Aren`t you scared? “
Irgendwann gebe ich auf und wage mich in einen der Gun-Shops am Weg, um mir ein Döschen Pfefferspray zu besorgen. Wenn es für sonst nichts gut ist, hilft es ja vielleicht, falls mir ein Bär begegnen sollte. Wenn ich nachts manchmal in meinem stockdunklen Zelt aufwache und überlege, ob das seltsame Geräusch nur der schnarchende Nachbar ein paar Zelte weiter oder doch ein Fabeltier aus einem der letzten Horrorfilme ist, dann vertraue ich eher auf meine kleine „Zelt-Festung“ als auf ein bisschen Pfeffer. Ist zwar nicht ganz logisch, aber wirkt immer.
Die gewaltige Natur im Olympic National Park ist beeindruckend. Alles ist um so viel größer und weiter als im engen Europa. Das monotone Treten gibt meinen Gedanken genug Zeit, auf die Reise zu gehen. Bis jetzt unentdeckte Winkel zu erkunden, neue Wege zu denken oder einfach nur zu sein. „Ach, schau mal, was für eine hübsche Blume. – Ist diese Felsenlandschaft nicht grandios. – Ich glaube, ich habe noch nie so einen wilden Strand gesehen. – Wie mag das Wetter gerade zuhause sein. – War das jetzt gerade ein Eichhörnchen oder doch eher eines von diesen Streifenhörnchen aus den Zeichentrickfilmen? – …“
Manchmal vergeht eine Stunde, ohne dass ich einer Menschenseele begegne. Dann wieder „reite“ ich in ein kleines Städtchen ein, dessen Häuser aus einem Westernfilm stammen könnten. An der Bar im nächsten Coffee Shop lasse ich mir ein echtes amerikanisches Frühstück servieren und lausche den Gesprächen der Holzfäller neben mir.
Die steilen Küstenstraßen in Oregon lassen mich manchmal verzweifeln, besonders morgens, wenn die Septemberluft noch kühl ist und der Nebel tief über den Stränden liegt. Dann spukt mir immer wieder das Lied von Janis Joplin „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz…“ im Kopf herum und lenkt mich etwas ab vom schweißtreibenden Aufstieg. Doch der grandiose Ausblick nach der nächsten Kurve lässt mich wieder alles vergessen und die rasende Abfahrt hinunter zur Küste, die mit bizarren Felsformationen verziert ist, verleiht mir Flügel. Im nächsten kleinen Tante-Emma-Laden an der Strecke wärmt mich später der zwar dünne, aber glühend heiße Kaffee und weckt neue Lebensgeister.
Ehrfürchtig setzte ich im weichen Moos der Redwoods einen Fuß vor den anderen. Unter den riesigen Bäumen komme ich mir sehr klein vor und die schräge Morgensonne, die durch die Stämme leuchtet, gibt mir das Gefühl, in einer großen Kirche zu stehen. Kein Mensch da, mit dem ich meine Gedanken teilen könnte oder der mich ablenkt. Ganz zurück geworfen auf mich selbst und doch so spannend, heraus zu finden, was in mir noch alles zu finden ist. Noch unentdeckt.
Ich sauge alle Eindrücke in mich auf. Lasse mir Zeit. Da ist keiner, der drängelt oder ins nächste Café will. Wenn ich stehen bleiben möchte, um die Aussicht auf die Küste zu genießen, dann bleibe ich einfach stehen. Und nach 20 Metern gleich noch einmal, weil nun ein weiterer, dunkler Fels-Monolith aus dem Meer aufgetaucht ist.
Dem eigenen Rhythmus zu folgen verleiht mir eine eigenartige, innere Ruhe, die mich im Hier und Jetzt leben lässt. Ein Tag nach dem anderen. Was kümmert es mich, ob es morgen regnet oder der Zeltplatz vielleicht schon voll ist. Wenn es soweit ist, wird sich eine Lösung finden.
Ab und zu unterbreche ich meine Zeltnächte in einer Jugendherberge, die am Weg liegt – und bin zu meiner Überraschung auch mal wieder froh über Gleichgesinnte, mit denen man sich am Abend austauschen kann. Bis jetzt hielt ich mich immer für jemanden, der auch ganz gut ohne Gesellschaft auskommt.
Gut vier Wochen nach meinem Start im nebeligen Seattle radle ich über die Golden Gate Bridge nach San Francisco. Vom Meer unter mir ist nichts zu sehen und die roten Brückenpfeiler schweben wie aus dem Nichts über dem dichten, weißem Nebel, der die ganze Bucht ausfüllt. Die 2.250 Kilometer waren nicht nur eine Reise entlang einer der schönsten Küstenlandschaften, sondern auch eine Reise mit mir, auf der ich mich ganz gut angefreundet habe mit den neu entdeckten Seiten an mir. Mein Tagebuch ist mittlerweile randvoll mit den vielen Eindrücken und Erlebnissen der letzten Wochen. Aber auch mit meinen Gedanken, Kommentaren, mit Anfeuerung und Stolz.
Das andere Ufer rückt näher und schon tauchen schemenhaft die ersten Häuser auf. Und obwohl ich in diesem Moment um nichts in der Welt meine zwei Räder gegen einen Mercedes tauschen würde, kommt mir Janis Joplin wieder in den Sinn und dieses Mal kann ich nicht anders und singe das Lied aus vollem Hals: „Oh Lord,….!“
Sie ist nun schon viele Jahre her, meine erste Solo-Reise. Viele weitere sind gefolgt. Und ich genieße nach wie vor das Gefühl der Freiheit, wenn ich mich am Beginn des Tages auf meinen bepackten Drahtesel schwinge und die Straße in der Morgensonne verheißungsvoll vor mir liegt.
(USA, September 1995)