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Ich habe das Gefühl, inmitten einer riesigen Baustelle zu stehen: links umhüllt ein Bambusgerüst eine große Ansammlung von Steinen und Ziegeln, daneben schauen ein paar steinerne Elefanten unter eine Plastikplane hervor, eine Steinmauer ist mit Rissen durchzogen und wird von großen Holzlatten gestützt. Und dazwischen jede Menge Touristen, die am Goldenen Tor neben dem Palast der 55 Fenster Schlange stehen, sich für Selfies vor den Tempeln in Pose werfen oder ihre Kinder auf die Steinpferde der Stufen des Siddhi Lakshmi Tempels setzen, die nur noch zu einer Ruine hinaufführen. Ein paar Erschöpfte nutzen die späte Nachmittagssonne für ein Schläfchen vor den Tempeltüren. Und natürlich Tauben, die in Scharen auf den roten Ziegeldächern der Tempel die warmen Strahlen genießen.
Der Durbar Square in Bhaktapur ist immer noch Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt, auch wenn das UNESCO-Weltkulturerbe bei dem schweren Erdbeben von 2015 einige Schäden erlitten hat. Die Aufbauarbeiten sind mittlerweile wieder in Gange (natürlich mit chinesischer Unterstützung), werden aber sicher wohl noch einige Jahre dauern. Das etwas chaotische erscheinende Sammelsurium an unversehrten, eingestürzten und im Aufbau befindlichen Gebäuden mindert die Faszination des Ortes aber keineswegs.
Inmitten des Platzes bleibe ich stehen, atme erst einmal tief durch. Unser Guide hat uns in den letzten zwei Stunden im flotten Tempo durch die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten geschleust. Nun brauche ich erst einmal etwas Zeit und Ruhe, um die ganzen Eindrücke zu verarbeiten.
Wenn man Nepal hört, dann denkt man in erster Linie an hohe, schneebedeckte Berge, vor denen bunte Gebetsfahnen im Wind flattern. Diesen Reichtum an Handwerkskunst, Tempeln und buntem Leben hatte ich nicht erwartet.
Kunstvolle Schnitzereien aus Holz schmücken nicht nur die 55 Fenster des Palastes und die liebevoll geschmückten Tore der Tempel, sondern auch viele Häuser in den engen Gassen der Altstadt. Und hier, in den Gassen, spielt sich auch das wirkliche Leben ab: auf den Straßen sieht man überall Gruppen von Leuten, die Tee trinken, Carrom (eine Art Tisch-Billard) spielen, die letzten Strahlen der Abendsonne genießen, angeregt diskutieren oder ihre Waren anbieten.
Rot ist die vorherrschende Farbe: die roten Ziegel der Häuser leuchten im warmen Licht der untergehenden Sonne, die zum Verkauf angebotenen Stoffe strahlen in unterschiedlichen Rottönen. Die Statuen der zahllosen kleinen Tempel, die sich einem in den schmalen Gassen immer wieder in den Weg stellen, sind mit roter Farbe beschmiert. Das gleiche Rot sehe ich auf der Stirn vieler, die mir in dem Labyrinth der niedrigen Häuser entgegenkommen. Längst habe ich die Orientierung verloren und lande nur per Zufall am Pottery-Quare, wo die Töpfer ihre tönernen Waren ausgebreitet haben. Auch hier dominiert die Farbe Rot in allen Schattierungen.
Die nächste Kreuzung mündet in einen kleinen Platz, wo Frauen auf Tüchern am Boden Gemüse zum Verkauf ausgebreitet haben. Ihre roten Wollmützen leuchten in der Menge. Vor dem Tempel, der den Platz überragt, kann man noch rote Blutlachen der Opfertiere erkennen. Daneben nagen ein paar Hunde an großen Knochen – wohl Überreste vom Markttag.
Langsam macht sich die Dämmerung breit und ich schlage die Richtung ein, in der ich mein Hotel vermute. Mit dem Verschwinden der Sonne kriecht auch die Kälte wieder aus den Häuserritzen, und entlang der Straße sieht man nun kleine Feuer, um die sich Grüppchen von Menschen scharen. Der orange-rote Schein der Flammen, deren lange Finger die Dunkelheit durchbrechen, begleitet mich auf meinem Weg durch die verschlungenen Gassen.
(Nepal, Dezember 2019)