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Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht in die wärmenden Strahlen der Sonne. Die Rufe einiger Dohlen durchbrechen die Stille. Sonst ist nichts zu hören.
Unter mir breitet sich ein Wolkenmeer aus, umspült die zerklüfteten Gipfel des Hohen Atlas. Ein paar Schneefelder bilden einen hübschen Kontrast zu den dunklen Felsen. Friedlich und auch etwas unwirklich.
Als ich heute Morgen kurz vor 6 Uhr den Kopf aus dem Zelt streckte, war die Landschaft kaum wieder zu erkennen: die Nacht hatte alles in einen makellosen Mantel aus Schnee verpackt, der nun in der goldenen Morgensonne glitzerte. Über den Gipfeln stand noch verloren der Halbmond am blauen Himmel, als wäre er unschlüssig, ob sein Tagwerk schon erledigt wäre.
Der perfekte Tag für den Gipfelsieg.
Kurz nach 8 Uhr brechen wir auf. Der Gipfel des Toubkal erhebt sich vor uns. Unnahbar sieht die steile Flanke aus, an der wir hochmarschieren werden. Nach gut einer Stunde schnallen wir die Steigeisen an. Jetzt im Mai liegt noch ungewöhnlich viel Schnee auf den Hängen.
In gemächlichem Tempo bewegt sich unsere Gruppe über den Hang nach oben. Die Sonne blendet und ich kann die Gestalten mit den bunten Rucksäcken vor mir nur schemenhaft erkennen. Mit jedem Schritt muss ich einen ganzen Atemzug nehmen, komme unendlich langsam vorwärts. Wie so oft, macht mir die dünne Luft zu schaffen.
Als wir den kleinen Pass unterhalb des Gipfels erreichen, gebe ich auf. Nur noch knapp 100 Höhenmeter trennen mich vom Gipfelsieg. Aber mein Körper sagt nein, mir wird immer wieder leicht schwindelig und es macht einfach keinen Spaß mehr.
Ich bleibe alleine zurück, während der Rest der Gruppe Richtung Ziel auf 4.167 Meter Höhe weitergeht. Mein Atem wird wieder ruhiger und ich genieße diesen wunderschönen Platz mit Rundum Aussicht auf schroffe Gipfel und die braunen Kämme der südmarokkanischen Wüstenebene. Beobachte die Dohlen und kleine, Spatz-artige Braunellen, die zwischen den Felsen nach Futter suchen. Die zwei Stunden bis die Gruppe mich wieder einsammelt, vergehen wie im Flug.
Habe ich versagt, weil ich es nicht bis ganz oben geschafft habe? Den höchsten Berg Nordafrikas nicht zu meiner Bucket-List hinzufügen kann? Ganz im Gegenteil, ich fühle mich reich beschenkt, dass ich diesen wunderschönen Platz ganz für mich allein hatte. Die Eindrücke und die Ruhe genießen konnte. Und die Schönheit der Landschaft in meinen Erinnerungen bewahren kann.
(Marokko, Mai 2018)