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Wir haben uns einen einigermaßen windgeschützten Platz mit Blick auf den Felsen ausgesucht. Die Sonne steht schon tief über dem Horizont und taucht die Landschaft in ein weiches Licht. Ein paar Meter vor uns geht es steil nach unten: ein tiefes Tal, in dem das Rauschen der Wellen zu erahnen ist. Denn hören kann man das Meer hier nicht. Der Lärm vom gegenüberliegenden Felsen übertönt alles: Dreizehenmöwen begrüßen sich lautstark, die Trottellummen müssen wohl jedem ihrer Nachbarn die letzten Neuigkeiten einzeln erzählen und dazwischen hört man auch immer wieder die „Rah, rah!“ Rufe der Tordalks. Die steile Felswand vor uns ist dicht besetzt mit Seevögeln und ihrem Nachwuchs. Überall lugen flauschige Knäuel zwischen den Federn der Eltern hervor oder betteln hungrige Schnäbel um Futter.

Mit unseren Ferngläsern suchen wir die Reihen von dicht gedrängten Vögeln ab. Wir sind auf der Suche nach „Sprung-Kandidaten“: kleinen Trottellummen, die bereit sind für den Sprung in Wasser. Wobei man wohl über den Ausdruck „bereit“ streiten könnte, denn wann kann man schon bereit sein für einen Sprung aus 30 Metern Höhe in ein kaltes und stürmisches Meer? Aber den Kleinen bleibt nichts anderes übrig, wenn es den Eltern zu anstrengend wird, sie in luftiger Höhe mit Nahrung zu versorgen.

Auf einem knappen Vorsprung sitzt ein Lummenküken und schaut zweifelnd in die Tiefe. Auf dem nächsten Absatz, gut 20 cm unter ihm, sitzt ein Elternteil und versucht den Nachwuchs zu animieren, den Mini-Hopser zu ihm zu wagen. Der Kleine spreizt die noch spärlich befiederten Flügel und dreht sich dann wieder Richtung Felswand. Kurz darauf nimmt ihn die Mama wieder unter ihre Fittiche. Der ist wohl heute kein Kandidat.




Immer wieder übertönen hohe Schreie den allgemeinen Lärm. Mittlerweile erkennen wir sie als Rufe von jungen Lummen, die meist ohne Eltern im Felsen sitzen. Und da ist auch wieder einer, der kläglich rufend auf einem schmalen Felsband hockt. Die Mama schiebt ihn von hinten sanft an, damit er sich noch einen Schritt näher an den Abgrund wagt. So ganz will er nicht, aber Stück um Stück wird er näher an die Felsenkante bugsiert. Unter ihm sitzt der Papa und ruft hinauf. Und dann ein letzter Schups und der Kleine sitzt auf der nächsttieferen Felsenstufe. Dreißig Zentimeter auf dem langen Weg nach unten sind geschafft.



Hilflos steht er da und stößt seine hohen Rufe auf. Aber schon sitzt die Mama wieder neben ihm und schiebt… Er dreht sich um und will sich in den dichten Federn der Mutter verstecken, aber die zeigt kein Erbarmen. In kleinen Trippelschritten rückt sie immer näher an ihn heran, während der Vater schon wieder ein Stück weiter unten ruft. Und plötzlich plumpst er mitten in das Nest einer Dreizehenmöwe. Die ist natürlich überhaupt nicht erfreut und lässt ihn das auch mit bestimmten Schnabelhieben spüren. Geduckt flüchtet der „Jumpling“ und stürzt die nächste Felsstufe hinunter – und verschwindet in einer Ansammlung von Trottellummen!

Wir halten die Luft an und sehen nur noch dunkle Körper, die auf den unschuldigen Eindringling losgehen. Doch dann kommt die Mama zur Hilfe, um ihren Nachwuchs aus dem Tumult zu befreien. Erschöpft, aber anscheinend unverletzt, sitzt das schwarze Knäuel am äußersten Rand des Felsens. So hart hatte er sich den Weg ins neue Leben wohl nicht vorgestellt.
Die Verschnaufpause ist nur kurz. Schon steht wieder ein Elternteil neben ihm, um ihm zum nächsten Schritt zu motivieren. Der Kleine dreht sich vom Abgrund weg, will nicht noch weiter in die Tiefe. Er tut uns richtig leid, am liebsten würden wir ihm gut zureden, dass es schon nicht so schlimm werden wird.

Eine Zeitlang tut sich nichts, die junge Lumme sitzt an der Felskante und stößt ab und zu herzzerreißende Rufe aus. Unsere Hände frieren langsam vom Fernglas-Halten ein und die Dämmerung macht mittlerweile auch die Sicht anstrengend. Doch wir warten. Wir wollen wissen, ob der Kleine es heute schafft.
Plötzlich fühlt sich wohl eine andere Lumme gestört und pickt auf den ungebetenen Gast hin. Vor lauter Schreck purzelt er nach unten und landet dieses Mal neben dem Nest eines Tordalks. Auch der kennt keine Gnade und geht mit Schnabel und Flügeln auf den Kleinen los. Verfolgt ihn, bis… – plötzlich ist er verschwunden. Wir konnten noch kurz erkennen, wie er rücklinks über die steile Kante fällt. Und hoffen, dass er sicher unten im Wasser angekommen ist.

Die Sonne ist inzwischen hinter dem Horizont verschwunden und der Felsen vor uns ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Aber der immer noch beträchtliche Lärm lässt keinen Zweifel daran, dass hier noch einiges los ist.
Doch wir machen uns nach dem aufregenden Schauspiel nun auf den Rückweg über die stille Insel und wünschen unserem kleinen Springer in Gedanken alles Gute und noch ein langes Leben auf dem großen, weiten Meer.
(Isle of May, Schottland, Juli 2024)
