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Es dämmert schon, als unser Boot den kleinen Sandstrand erreicht. Ein zweites Boot liegt schon an dem schmalen Steg der Insel und dessen Insassen stehen als kleines Grüppchen am Beginn des Weges, der im Hintergrund zwischen dichten Bäumen verschwindet. Bis wir alle das schwankende Boot verlassen und uns um unseren Guide versammelt haben, ist die Sonne hinterm Horizont verschwunden.
Ich folge den anderen auf dem sandigen Untergrund in den Wald. Es liegt eine eigenartige Spannung in der Luft. Nur der Guide ganz vorne leuchtet ab und zu mit der Stirnlampe, wir suchen uns schweigend den Weg im fahlen Mondlicht. Dann wird es vor uns heller, die erste Gruppe steht auf einer kleinen Lichtung, aufgeregtes Flüstern ist zu hören. Unser Guide deutet uns, näher zu kommen, und verteilt uns auf dem kleinen Platz. Im Mondlicht ist nichts zu erkennen, aber ab und zu höre ich ein nagendes Geräusch. Dann schwenkt jemand kurz eine Taschenlampe über die Baumgruppe vor uns. Ich sehe einen riesigen, buschigen Schwanz und kurz zwei leuchtende Augen. Dann ein kurzes Rascheln und die Erscheinung ist wieder verschwunden. Kurz kann ich gar nichts mit dem Gesehenen anfangen, „Kleiner Teufel“ kommt mir in den Sinn. Doch dann arbeitet mein Verstand wieder: das war also das sagenumwobene Aye-Aye von Madagaskar. Irgendwie hatte ich mir diese Lemuren Art viel kleiner vorgestellt. Alleine der Schwanz maß schon fast einen halben Meter.
Doch nun scheint das scheue Tier die Flucht ergriffen zu haben. Wir starren noch eine Zeit lang in die Äste vor uns, ab und zu leuchtet auch eine Lampe hinein. Aber da rührt sich nichts mehr. „Immerhin habe ich eines gesehen“, denke ich mir. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.
Ein paar Minuten später sammelt unser Guide uns lautlos wieder ein und wir folgen weiter dem sandigen Pfad unter den dunklen Ästen, zwischen denen der Sternenhimmel durchblitzt. Ich bin noch ganz gefangen von dem Anblick und muss aufpassen, dass ich nicht in meinen Vordermann laufe, der plötzlich stehen bleibt. Anscheinend hat der zweite Guide am Schluss noch etwas entdeckt. Wir drehen um und biegen dann rechts ab. Wieder ein Lichtschein vor uns. Ich sehe ein paar dunkle Silhouetten, die regungslos auf einen erleuchteten Fleck starren. Fotoapparate klicken und piepsen. Dazwischen hört man wieder das nagende Geräusch. Und dann bemerke über einer halben Kokosnuss, die zwischen die Bäume geklemmt ist, eine Bewegung. Ein langer, buschiger Schwanz streckt sich parallel zum Baumstamm in die Höhe. Darunter ein schwarzer Körper, der in einen Kopf mit zwei großen, runden Ohren mündet, der wiederum tief in der Kokosnuss steckt. Am Rand der Nuss erkenne ich die langen, knochigen Finger, die sich festhalten. Kurz blick das Aye-Aye auf und fixiert uns mit seinen stechenden Augen, bevor es den Kopf wieder in der Frucht vergräbt.
Ich sinke langsam auf die Knie und bin nun nur noch circa zwei Meter von der Gestalt vor mir entfernt, die sich nun zur Seite dreht und mit ihrem knochigen Fingerknochen mit schnellen Hin- und Her-Bewegungen im Fruchtfleisch der Kokosnuss stochert. Ein unheimlicher Anblick, der durch die struppigen, weißen und längeren Haare in dem schwarzen Pelz noch verstärkt wird. Ich kann verstehen, warum die Madagassen immer noch Angst vor diesem Wesen haben.
Ein Rascheln in den Zweigen weiter oben. Eine Lampe schwenkt in die Richtung und wir erkennen ein kleineres Aye-Aye, das vorsichtig nach unten späht. Anscheinend haben wir den einzigen Nachwuchs entdeckt, den es unter den sechs Tieren auf dieser Insel gibt. Unschlüssig wandert es auf den oberen Zweigen hin und her und blickt auf seine beschäftigte Mama.
Ich merke, wie verkrampft meine Arme schon vom Halten der Kamera sind, und lasse den Fotoapparat auf meine Knie sinken. Unter diesen Lichtverhältnissen und ohne Blitz werde ich sowieso kein scharfes Foto hinbekommen. Andächtig genieße ich den magischen Moment, ein so seltenes und merkwürdiges Tier in freier Wildbahn zu beobachten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – das wollen wir auf jeden Fall meine protestierenden Knie vermitteln – werden wir von unserem Guide wieder eingesammelt. Ich kann mich nur schwer losreißen, verstehe aber, dass man den Wildtieren auch etwas Ruhe gönnen muss. Immerhin ist es für mich schon ein kleines Wunder, dass ich dem buschigen Teufel überhaupt begegnen durfte.
(Madagaskar, August 2017)