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Wir sind die ersten heute. Haben das Schwimmbad noch ganz für uns alleine. Die hellen Fliesen reflektieren die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fallen. Von diesen sind allerdings nur noch die Rahmen übrig. Das Glas ist schon lange Wind, Wetter und wohl auch einigen Touristen zum Opfer gefallen. Stattdessen strecken die umliegenden Bäume ihre Zweige durch die Öffnungen und tauchen das leere Becken in ein grünliches Licht. Ganz nah, bis an die Gebäudemauern haben sie sich gewagt, mit ein paar mutigen Wurzeln schon einen Platz im Raum gesichert. Neugierig, was denn wohl noch übrig geblieben ist von dem einst strahlenden Zeugnis russischer Architektur.

Pripjat, mitten in der Sperrzone rund um den Reaktor Tschernobyl: Was vor gut dreißig Jahren eine lebendige und florierende Stadt mit 50.000 Einwohnern war, erweckt heute eher den Eindruck eines riesigen Parks, in dem die Gärtner schon einige Zeit auf Urlaub sind. Die Natur tobt sich aus, nimmt alles in Besitz. Luftbilder zeigen ein paar verfallene Plattenbauten, die vom Grün eingekreist sind und langsam darin verschwinden.

Die Stufen zu einem Hauseingang sind mit langen Baumwurzeln überzogen, auf dem Weg davor blitzen noch ein paar Asphaltreste durch das Moos. Grüne Zweige winken von einem löchrigen Balkon und aus dem nächsten Fenster reckt sich ein Baumwipfel in den Himmel.

Die zerbröckelte Fassade des nächsten Blocks verschwindet fast hinter dem dichten Vorhang aus Grün, das sich den Vorplatz erobert hat. Ein verrostetes Verkehrsschild „Achtung Fußgänger!“ behauptet sich noch am Straßenrand. Allerdings sind die meisten Besucher ohnehin mitten auf der Straße unterwegs, deren Ränder auch schon von Wurzeln und Moosen angeknabbert werden.

Der bekannte Rummelplatz mit seinem Riesenrad scheint noch relativ verschont von der grünen Welle. Ein paar gelbe Blüten haben sich durch den Asphalt geschoben. Aber beim Näherkommen erkennt man die Äste der Birke, die nach der Gondel greifen, die still in der Luft schwebt. Gräser und kleine Büsche machen sich auf dem Platz zwischen den bunten Autoscootern breit. Rahmen sie ein, als wollten sie die kleinen Wagen am Wegfahren hindern.

Eine seltsame Stille liegt über der verlassenen Stadt. Das Rauschen der Blätter unterstreicht das Gefühl, dass hier nicht mehr der Mensch, sondern die Natur die Herrschaft ergriffen hat. Ohne Respekt vor Architektur oder den Insignien der Macht der ehemaligen russischen Herrschaft. Alles wird vereinnahmt, für die eigenen Zwecke genutzt. Mächtige Baumwurzeln sprengen die ausladende Treppe zum ehemaligen Theater. Hölzerne Parkbänke geben auf und brechen unter ihrer grünen Last zusammen. Eine Fichte zwängt sich ganz ungeniert zwischen Tür und Angel des Kassahäuschens. Die Zuschauerränge des Sportstadions sind von jungen Eichen und Birken besetzt.

Langsam folge ich dem Asphaltband, das immer schmaler wird. Rechts und links drängen die jungen Wilden des Waldes herein. Zuerst kommt das Moos, dann suchen sich die Wurzeln ihren Weg. Ich gehe nur noch über Bruchstücke der Straße. Ein schmaler Pfad, der irgendwann verschwindet. Dann Waldboden, bedeckt mit Laub und Nadeln. Keine Spur mehr vom Boulevard, der hier vor Jahrzehnten noch breit durch eine Stadt zog. Verschluckt vom grünen Teppich der Natur.

(Tschernobyl, Ukraine, Juli 2019)