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Vor mir erstreckt sich der Damm kerzengerade durch die Wiesen. Leuchtend roter Mohn säumt die Ränder und die dünnen Stängel beugen sich unter der Last der Blüten im Wind. Rückenwind! Es fühlt sich fast an wie Fliegen, wie ich vom Wind über den erhöhten Damm geschoben werden. Die Reifen surren auf dem glatten Asphalt. Der ganze Damm gehört mir, keine Menschenseele ist an diesem Vormittag auf der slowakischen Seite der Donau Richtung Budapest unterwegs.
Ich bremse kurz ab, um einen Storch zu beobachten, der gemächlich durch die sumpfige Wiese stakst. Rechts führt ein kleiner Pfad direkt in das Band aus Bäumen und Sträuchern, das die Donau vom Damm trennt. Ideal für eine Pinkelpause. Langsam rolle ich den holprigen Pfad entlang direkt hinein in das dunkle Grün.
Und bleibe verblüfft stehen. Mich umgibt eine völlige andere Welt: dichter Urwald mit alten, knorrigen Baumriesen, von deren Ästen Lianen in grünliches Wasser hängen, das zwischen den Bäumen steht. Ein Vogel startet erschreckt aus dem Wasser. Ein paar Frösche quaken träge. Langsam radele ich weiter und versuche dabei, die zahlreichen Mücken abzuwehren, die sich auf mich stürzen. Vor mir wird das Dickicht etwas lichter und ich kann das Wasser der Donau schimmern sehen. Die Krone eines umgestürzten Baumes liegt im Wasser, Pappeln und Weiden stehen am sandigen Ufern, die Wurzeln verschwinden teilweise im fließenden Strom. Eine kleine Landzunge mit Schilf ragt in den Fluss. Gelbe Lilien schmiegen sich an einen verrotteten Baumstamm. Als ich näher ans Ufer trete, erkenne ich lauter kleine Muscheln im Sand.
Man hat den Eindruck als wäre hier seit Jahren keine menschliche Seele mehr gewesen. So wild und der Natur überlassen erscheint einem diese Welt. Abgeschieden und doch nur ein paar Meter vom gepflegten Hochwasserdamm entfernt.
Ich setze mich auf einen umgestürzten Baumstamm und schaue auf das träge fließende Wasser hinaus. Ruhig und friedlich liegt der Strom vor mir, in meinem Rücken rauschen die Blätter der Bäume und das Schilf raschelt sanft am seichten Ufer. Eine Möwe segelt vorbei, wohl auf der Suche nach Donaufischen.
Nach einer Weile reiße ich mich los, verlasse den Märchenwald und radle wieder den Damm hinauf. Ich klopfe mir die weißen Flusen der Pappeln vom T-Shirt und befreie meine Schnürsenkel von den grünen Kletten der Gräser. Dann fliege ich weiter dem immer noch menschenleeren Damm entlang.
(Slowakei, Mai 2017)