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Der von Wind und Wetter rund geschliffene Sandstein hat praktischerweise auch ein paar Löcher, die gut als Kletterhilfe dienen. Ich überwinde die steile Wand, indem ich mich teilweise an den Armen hochziehe oder auch den guten Gripp meiner Wanderschuhe auf dem porösen Untergrund nütze. Dann stehen wir vor einem Felskamin, der ein paar in unserer Gruppe doch etwas herausfordert. Aber sofort sind einige der selbsternannten, lokalen Guides zur Stelle, die hilfsbereit eine Hand reichen oder sogar von hinten etwas anschieben.

Mir macht das Klettern eher Spaß und bald stehe ich auf einem kleinen Felsplateau und überblicke die traumhafte Landschaft. In einigen Reiseführen wird das Gheralta Gebirge auch mit dem Monument Valley verglichen: mächtige Felskämme erheben sich aus der endlosen Ebene, über die einige Bäume und grüne Büsche verstreut sind. Steil streben die schroffen Sandsteingebilde nach oben. Ragen wie Inseln aus der Landschaft.

Noch ein Stück bergauf und wir erreichen unser erstes Ziel heute: die Maryam Korkor, eine Felsenkirche, die in das weiche Gestein getrieben ist. Von außen sieht man nur den gemauerten Eingang, der Großteil der Kirche mit den mächtigen Sandsteinsäulen verbirgt sich im Berg dahinter. Während unser Guide den Schlüssel besorgt, erholen wir uns von der Stunde Kletterei und genießen die Aussicht. Ich frage mich, wie es all die Gläubigen hier hinauf schaffen.

Ein Mönch und eine Nonne bewohnen das kleine, langgezogene Steinhaus nebenan und sind die Wächter der Kirchen. Denn es gibt noch eine zweite, kleinere Kirche, nur ein paar Hundert Meter entfernt: die Abba Daniel Korkor. Allerdings ist ihr Eingang nur über einen schmalen Pfad, der an den Felsen klebt, zu erreichen.

Zögerlich stehe ich vor dem Einstieg. Nur einen knappen Meter ist der aus der Felswand gehauene Weg breit. Daneben geht es kerzengerade in die Tiefe. Kein Geländer, kein Seil, nichts, um sich festzuhalten. Mir ist ziemlich mulmig zumute, und ich warte erst mal ab, bis die meisten der Gruppe über das schmale Felsenband bis zu der unscheinbaren Tür balanciert sind. Dort steht schon der Mönch mit dem Schlüssel und wartet. Schließlich fasse ich mir auch ein Herz und gehe vorsichtig den anderen nach. Den Blick nach unten vermeide ich allerdings.

Die kleine Holztür steckt direkt im Felsen, darüber hängt ein riesiger Lautsprecher. Schon eine eigenartige Konstruktion. Vorsichtig entledige ich mich meiner Wanderschuhe und steige mit eingezogenem Kopf über die hölzerne Schwelle. Ich stehe in einem vier mal vier Meter großen Raum, dessen Wände mit Malereien verziert sind. Leicht verblasst durch die Jahrhunderte und in warmen Farben, die im Sonnenlicht leuchten, das durch die Öffnung der Tür fällt.

Während ich den Erklärungen unseres Guides lausche, blicke ich durch die kleine Pforte nach draußen in die endlose Ebene. Wie ein kleines Raumschiff scheint die Kirche hier oben zu schweben, fernab von den weltlichen Dingen, die uns jeden Tag beschäftigen. Man sieht ein Stück Himmel, der am Horizont mit der gelben, grenzenlosen Weite verschmilzt. Näher am Göttlichen, als am Irdischen. Das war wohl auch der Gedanke der Mönche, die sich hier vor vielen Hundert Jahren niedergelassen haben.

(Äthiopien, November 2018)