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Ich gehe langsam über den sandigen Weg, lasse den Blick von der Mitte des Weges zum rechten Rand und wieder zurück gleiten. Links und rechts erstreckt sich der Pinienwald, durch den der Wind steift. Man hört das Zwitschern der Vögel, sonst ist es still. Kein Auto, kein Flugzeug, kein Mensch. Nur Natur…

Rudolf, der ein paar Schritte vor mir auf der linken Seite geht, bleibt stehen und zeigt in die Mitte des Waldweges. Als ich näherkomme, kann ich es auch erkennen: Büschel von weißlichen Haaren, schon etwas platt, liegen locker verteilt mitten auf dem Weg. Dazwischen sind bleiche Knochenstückchen zu erkennen. Ich nicke zustimmend und nehme das GPS vom Gürtel. Nach drei Tagen in den Wäldern rund um die Lüneburger Heide sind wir ein eingespieltes Team: während ich den Punkt im GPS markiere, legt Rudolf schon den Zollstock neben unseren Fund. Ich mache ein Detailbild von oben und ein Übersichtsbild mit einem Stück vom Horizont, während er schon die Klemmmappe herausgeholt hat und die Daten im Dokumentationsblatt einträgt. Ich setze den Rucksack ab, packe die Tupperdose mit unserem SCAT-Kit aus. Wieder einen Plastikbeutel mit Ort, Datum und GPS-Koordinaten beschriften. „SCAT 11“ schreibe ich als Überschrift. Schon unser elfter Fund an diesem Vormittag – auf einer Strecke von nur knapp 1,5 Kilometer.

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Rudolf geht auf die Knie und beugt sich mit der Nase tief über das kleine Häufchen – sein Gesicht beantwortet meine Frage: typischer Wolfsgeruch. Mit einem Latexhandschuh bewaffnet sammle ich die Haare, größere und kleinere Knochenstücke auf. Sogar ein kleiner Rehhuf ist mit dabei – ich bin immer wieder erstaunt, was so alles durch einen Wolfsmagen geht. Die Analyse der Losung soll Aufschluss über die Ernährung der Wölfe in diesem Gebiet geben.

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Mittlerweile muss ich schon sorgfältig schlichten, damit die vielen Beutel mit unseren Funden in die Tupperdose passen. Beim Verstauen in meinem Rucksack frage ich mich, wie lange mich wohl der strenge Geruch auf meinen nächsten Wanderungen begleiten wird.

Alles wieder eingepackt, gehen wir langsam auf dem Weg weiter. Manchmal denke ich mir, der Wolf könnte direkt vor uns stehen und wir würden ihn nicht bemerken, weil wir so angestrengt auf den Boden fixiert sind. Aber dazu sind Wölfe natürlich zu scheu und gar nicht erpicht darauf, uns Menschen zu begegnen.

Vor mir bleibt Rudolf stehen und schaut vor sich auf den Boden. „Nicht schon wieder!“, denke ich bei mir. Aber doch, dieses Mal haben wir ein relativ frisches Exemplar entdeckt: die schwarz-lila schimmernden Mistkäfer sind noch angestrengt damit beschäftigt, die Losung zu verarbeiten, in kleine Erdlöcher zu ziehen und nur die Haare übrig zu lassen. Es ist, als der Kot noch lebt. Alles bewegt sich.

Dieses Mal habe ich schon beim Fotografieren den strengen Geruch in der Nase. Eindeutig Wolf. Dose wieder raus, Beutel beschriften, GPS Koordinaten eintragen, Latex-Handschuh überstreifen. Es ist gar nicht so einfach, die Käfer von ihrer Mahlzeit zu trennen, damit sie nicht auch im Beutel landen. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, ihnen ihr Mittagessen wegzunehmen.

Ein paar Minuten später entdecken wir Spuren im Sand, die sich einige Meter im sandigen Untergrund verfolgen lassen. Könnte ein Wolf gewesen sein, zumal sie in einer sehr geraden Linie verlaufen und auf einen „geschnürten Trab“ hindeuten, bei dem die Hinterpfoten in die Vorderpfoten treten. Eine sehr energiesparende Fortbewegungsart, in der Wölfe auch schon mal 70 Kilometer oder mehr am Tag zurücklegen. Zum Spaß messen wir die Größe der Abdrücke: ab 8 Zentimeter könnte es ein Wolf sein. Um wirklich als Wolfsspur zu gelten, muss sie über mindestens über 100 Meter zu verfolgen sein – was in unserem Fall nicht zutrifft. Aber doch irgendwie ein aufregendes Gefühl, diese Abdrücke im Sand zu sehen.

Bis zum vereinbarten Treffpunkt und einige Stunden später haben wir insgesamt 24 Losungen dokumentiert und auch 20 davon eingesammelt. Ein neuer Rekord! Aber wir waren auch am „Wolfs-Highway“ unterwegs, wo sich das Rudel in diesem Gebiet wohl besonders gern aufhält. Auch Malinka und Claire, die wir dort wieder treffen, waren erfolgreich: sie haben ebenfalls über 20 Proben gefunden. Die liegen nun alle ausgebreitet auf dem Tisch der Veranda von Kennys Hotel, in dessen Garten wir heute unsere Zelte aufgebaut haben. Kenny ist Wolfsberater für unser heutiges Gebiet südlich der Elbe, und er begutachtet jede Probe einzeln. Dazwischen stehen unsere Kaffee-Tassen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, zum Nachmittagskaffee auch ein paar Beutel mit Wolfsscheiße zu sortieren.

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Eine unserer Proben scheint noch frisch genug zu sein, um davon DNA zu nehmen und den Wolf zu identifizieren. Also den Kaffee noch mal zur Seite stellen, Latexhandschuh überstreifen und zwei Zentimeter in ein Döschen mit Alkohol bugsieren. Anschließend wasche ich mir wohl zum fünften Mal an diesem Nachmittag die Hände – aber den Wolfsgeruch habe ich trotzdem immer noch in der Nase.

Beim Abendessen – unsere „Beute“ haben wir mittlerweile sicher verstaut – erfahren wir von Kenny noch Wissenswertes aus dem Leben eines Wolfsberaters, von denen es alleine in Niedersachsen 120 gibt. Und natürlich über die Wölfe, die sich langsam wieder in Europa ausbreiten. Was allerdings nicht von allen positiv aufgenommen wird. Unsere Arbeit als Freiwillige im Rahmen des Biosphere Projektes trägt dazu bei, möglichst viele Daten über die Verbreitung und das Verhalten der Wölfe zu liefern.

Bevor wir am Abend in unsere Zelte kriechen, machen Rudolf und ich noch einen Abstecher in ein kleines Wäldchen in der Nähe: es ist Glühwürmchen-Zeit. Kleine leuchtende Punkte schweben zwischen den Bäumen und Sträuchern, in denen ein leichter Nebel hängt. Eine fast magische Stimmung. Ich komme mir vor wie in einem Märchenwald. Aber das ist nicht der Wald vom bösen Wolf, sondern einer, in dem Wolf und Mensch friedlich nebeneinander leben.

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(Deutschland, Lüneburger Heide, Juni 2018)