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Langsam verschwindet der rote Felsen am Horizont, die Spitze des Leuchtturms ist von dunklen Wolken umhüllt. Trotz der trüben Stimmung und der schweren Regenwolken ist der Kurs des Schiffes erstaunlich ruhig. Ganz anders als bei der Überfahrt vor gut einer Woche, als sich der Bug hob und senkte und abwechselnd den Blick auf die Wolken oder ein tiefes Wellental freigab. Begleitet von einem Schwarm Möwen, denen der Sturm wohl nichts ausmachte, so ruhig segelten sie in der Luft.

Auch heute sitze ich fast alleine auf Deck 4, ein kleines Vordach schützt etwas vor Regen und Wind. Nur ab und zu wagt sich auch ein Raucher hier herauf und versucht, trotz Wind eine Zigarette anzuzünden.

Meine Gedanken wandern sechs Tage zurück, als ich auf der Insel ankam. Voller Erwartung und Vorfreude auf das Naturschauspiel, das mich erwartete. Mehr als 700 Robbenbabies sollen in diesem Winter zur Welt gekommen sein. Ein neuer Rekord! Und ich hoffte, einige von den süßen Meerestieren vor die Linse zu bekommen.

Am nächsten Morgen stehe ich dick eingepackt an der Mole bereit, um in das kleine Fährboot zu steigen, das mich zur Düne, der kleinen Schwester von Helgoland, bringen soll. Ich bin nicht die einzige mit Kamera und großem Objektiv: mittlerweile hat es sich wohl auch unter den Fotografen herumgesprochen, was es hier zu sehen gibt. Bevor ich meine Schiffskarte kaufte, gab es noch eine Einweisung vom Verein Jordsand, wie man sich gegenüber dem größten Raubtier Deutschlands verhalten soll und welche Bereiche der kleinen Sandinsel betreten werden dürfen. Heute ist der komplette Panoramaweg über die Dünen gesperrt, weil ihn ein Kegelrobbenbulle zu seinem Revier auserkoren hat. Wurfzeit ist nämlich auch die Paarungszeit der Kegelrobben.

Nach einer kurzen, wackeligen Überfahrt marschiere ich den kleinen Hafen entlang Richtung Südstrand. Hier ist zum Schutz der Robben (und der Besucher) seit dem letzten Jahr ein Metallzaun aufgestellt, damit genügend Abstand eingehalten werden kann. Allerdings scheinen die kleinen Robben nicht viel von einem Sicherheitsabstand zu halten, denn sie schmiegen sich richtig an die Gitterstäbe. Gleich auf den ersten Metern entdecke ich drei runde Fellknäuel mit herzallerliebsten Knopfaugen, die im Sand – im wahrsten Sinne des Wortes – herumkugeln. Zwischendurch gähnen sie herzhaft, winken mit den kleinen Flossen oder lassen ab und zu traurige Rufe hören, die ihnen wohl auch den Spitznamen „Heuler“ beschert haben.

Kegelrobbenkinder werden nach der Geburt von ihren Müttern nur zwei bis drei Wochen gesäugt. In dieser Zeit verdreifachen sie ihr Körpergewicht und sind am Ende wirklich kugelrund und von einem schönen Fettpolster umgeben. Von diesen Fettreserven müssen sie dann auch zehren, bis sie in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Denn nachdem sie abgesäugt sind, verlässt sie ihre Mutter und sie sind auf sich allein gestellt.

Durch die stürmischen letzten Wochen sind die kleinen Robben nicht nur am Strand zu finden, sondern mehr oder weniger über die ganze Insel verteilt. Selbst auf und neben den Wegen schauen einen immer wieder schwarze Knopfaugen an. Sogar die Landebahn des kleinen Flughafens ist nicht vor ihnen sicher.

Nachdem ich mich von den ersten Exemplaren am Beginn des Strandes losgerissen und gefühlt mindestens schon 100 Fotos geschossen habe, entdecke ich ein paar Meter weiter eine kleine Sensation: eines dieser Wesen hat wohl gerade erst das Licht der Welt erblickt. Das weiße Fell ist noch ganz nass und hat einen grünlichen Schimmer vom Fruchtwasser. Die Nabelschnur ist als blutiger Stumpf erkennbar, das Fell noch teilweise rot vom Blut. Aber es schaut schon mit wachen Augen auf die vielen Kameras, die auf es gerichtet sind. Die Mama liegt sichtlich erschöpft daneben und versucht eher halbherzig, die Möwen und Krähen zu vertreiben, die sich um die Nachgeburt streiten.

Ich sitze im kühlen Sand, die Kamera auf dem Schoss und betrachte den kleinen Neugeborenen, der schutzlos dem Wind und den Temperaturen ausgesetzt ist. Es wird wohl noch ein paar Stunden dauern, bis das helle Lanugofell getrocknet ist und es so flauschig aussieht wie bei den übrigen Robbenbabies. Mutter und Kind legen immer wieder die Schnauzen aneinander, um den Geruch des anderen kennenzulernen. Schließlich robbt die Mutter zwischen die Zuschauer und ihren Nachwuchs, um ihn wohl vor den vielen neugierigen Blicken zu schützen.

Die nächsten zwei Tage ist es so stürmisch, dass keine Fähre zur Düne überfährt. Ich vertreibe mir die Zeit am Nordstrand der Hauptinsel, wo es selbst im Dezember noch ein paar Wattvögel zu fotografieren gibt. Und auch hier kugeln ein paar kleine Robben am Strand herum oder kämpfen sich durch die Brandung bis zu den schützenden Dünen.

Am dritten Tag bin ich wieder unterwegs zum Südstrand. Ich bin gespannt, was aus dem Neuankömmling geworden ist. Zu meiner Freude liegt er friedlich noch fast an der gleichen Stelle neben seiner Mutter. Beide dösen vor sich hin, nur ab und zu machen sie einen Blick in die Runde. Es scheint ihm gut zu gehen, dem Kleinen. Ganz flauschig ist er nun und er kommt mir auch schon etwas runder vor als am ersten Tag. Am Liebsten würde ich ihn in den Arm nehmen und vor der großen weiten Welt mit all seinen Gefahren, die auf ihn zukommen, beschützen. Statt dessen schicke ich ihm ein paar positive Gedanken und gute Wünsche. Und genieße einfach den Anblick dieses kleinen Wunders.

Nun, auf der Rückfahrt zum Festland, habe ich das Gefühl, dass ich langsam wieder auftauche aus einer Woche an diesem abgeschiedenen Ort mitten im Meer. Man hört nur das Meeresrauschen und das Pfeifen des Windes. Die Luft ist kühl, aber klar. Wenn die Wolken in der Nacht den Himmel freigeben, dann leuchten die Sterne zahlreich über einem – nur gestört vom Strahl des Leuchtturmes, der unermüdlich seinen Bahnen am Himmel zieht. Man spürt die Kraft der Natur und der Rest der Welt scheint unendlich weit weg. Etwas wehmütig schaue ich noch mal auf den kleinen, roten Fleck am Horizont, bevor er ganz verschwunden ist.

(Helgoland, Deutschland, Dezember 2023)

Irgendwo ins grüne Meer
hat ein Gott mit leichtem Pinsel
Lächelnd, wie von ungefähr,
einen Fleck getupft: Die Insel!

Und dann hat er, gutgelaunt,
Menschen diesem Fels gegeben
und den Menschen zugeraunt:
Liebt die Welt und lebt das Leben!

(James Krüss)