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Kurz ertönt ein schriller Warnruf. „Chalo! – Let’s go!“ sagt unser Guide. Die treuherzig dreinschauenden Axis-Hirsche, die ich gerade vor der Linse habe, müssen leider warten. Nun heißt es, sich und die Kamera festhalten, während unser Jeep über die holprige Piste Richtung Warnruf brettert.

Unterwegs schließen sich uns noch einige andere Jeeps an, die wohl ebenfalls den Ruf gehört haben, der die Anwesenheit eines Tigers signalisieren könnte. Eine rostrote Staubwolke hüllt mich ein. Fahrer und Guide sind wohlwissend schon seit Beginn der Tour bis unter die Augen vermummt, um nicht den ganzen Staub einzuatmen. Ich habe mich inzwischen schon daran gewöhnt, dass Jacke und Hose statt schwarz mittlerweile eher eine grau-rote Farbe haben und dass es auch heute Abend sinnlos sein wird, den Staub aus den Haaren zu kämmen. Nur die Kamera habe ich gut in einem wasserfesten Sack verpackt, denn sie ist schließlich das wichtigste Stück meiner Ausrüstung.

Inzwischen haben wir die Stelle erreicht, wo sich mutmaßlich ein Tiger aufhält. Ein paar Jeeps stehen schon vor dem dichten Gestrüpp. Aufgeregtes Palaver der Guides: anscheinend ist der Gesuchte gerade im Unterholz verschwunden. „Schon wieder…“, denke ich enttäuscht bei mir. Es ist Tag Acht unseres Safari-Urlaubs in Zentralindien und mittlerweile die dreizehnte Pirschfahrt. Die Reise steht ganz im Zeichen der Tiger, doch auch im vierten Nationalpark machen sie sich sehr rar. Vielmehr als ein paar schwarze Streifen, die für einige Sekunden im Blätterwald auftauchten, war bis jetzt nicht zu sehen.

Langsam macht sich bei mir ein bisschen der Frust breit. So hatte ich mir das nicht vorgestellt mit den Tigern. Vielleicht nicht ganz so einfach wie mit den Löwen in Afrika, wo man nach ein paar Tagen nur noch gelangweilt hinschaut, wenn wieder einer faul unter einem Baum liegt. Aber auch nicht so schwierig und anstrengend: jeden Tag acht Stunden im holprigen Jeep, der oft durch dichtes Grün braust oder auch einfach nur irgendwo steht und auf die schrillen Warnrufen der Hirsche und das alarmierte Husten der Affen wartet. Wobei ich das ruhige Stehen auf jeden Fall dem Rasen über Holperpisten vorziehe, denn so kommt mir vielleicht noch ein hübscher Vogel oder ein netter Hirsch vor die Kamera.

Auf jeden Fall mal wieder falscher Alarm. Wir bleiben noch ein bisschen stehen, in der Hoffnung, dass die Raubkatze sich doch noch mal aus dem Gebüsch wagt. Was ich mir bei dem lauten Getratsche der Guides aber nur schwer vorstellen kann. Nach einer Zeitlang geht es wieder weiter. Dieses Mal zu ein paar Wasserlöchern, die wohl gerne von den gestreiften Katzen aufgesucht werden. Heute aber leider nicht.

Kurz macht sich Aufregung breit, weil unser Guide frische Tigerspuren am Weg entdeckt. Aber auch hier scheint der Verursacher schnell wieder im Gebüsch verschwunden zu sein. Dafür gibt es eine Gruppe Languren direkt am Weg, deren weise dreinblickende Gesichter nette Fotomotive abgeben.

Plötzlich kommt wieder Bewegung in Guide und Fahrer, das Handy wird hoch gehalten, um einen Strich vom Netz zu ergattern. Ich kann mich gerade noch hinsetzen und die Kamera verpacken, bevor es wieder losgeht. Anscheinend hat wohl jemand einen Tiger gesichtet. Wir müssen uns ducken, um nicht die Zweige ins Gesicht zu bekommen, dann ist der Weg freier und das Tempo wird höher. Ein Blick auf den Tacho zeigt zwar nur knapp 30 km/h, aber bei den Schlaglöchern kommt mir das wie 80 vor.

Rechts erscheint ein imposanter Sambar-Hirsch, denkt wohl kurz nach und läuft uns dann direkt vor den Jeep. Ich sehe das mächtige Tier schon auf unserer Kühlerhaube, doch der Fahrer schafft gerade noch eine Vollbremsung. Und steigt sofort wieder aufs Gas – schließlich könnte ja doch ein Tiger warten.

„Tiger first, safety second.“

Kurz darauf biegen wir um eine Kurve – und ich traue meinen Augen nicht: da liegt doch tatsächlich eine Tigerin gemütlich im Pool und schlabbert das dunkle Wasser. Ungestört von den zwei Jeeps, die schon vor ihr stehen. Es sind keine zehn Meter bis zu ihr. Ich bin beeindruckt und gerührt vom Anblick des schönen Tieres.

Kurz schaut sie zu uns rüber, miaut ein paar Mal, fast wie eine Hauskatze, um ihren Jungen zu antworten, die wohl etwas weiter im Gebüsch auf sie warten und knurrende Rufe ausstoßen. Kurz ist es ruhig, die Motoren der Jeeps schweigen und man hört nur die Auslöser der Kameras. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass es doch noch geklappt hat, und wische mir verschämt ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

Der nächste Jeep kommt, darin ein schreiendes Kind. Das ist wohl doch zu viel für die Tigerdame. Gemächlich erhebt sie sich und läuft Richtung Jeeps, die nun hektisch rückwärts fahren, um ihr Platz zu machen. Ein kurzes Stück noch auf der Staubpiste, dann ist sie wieder im dichten Grün verschwunden.

(Indien, Oktober 2023)

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